„Haut dem Springer auf die Finger“ – Öffentlichkeitskonzepte und Medienkritik neuer sozialer Bewegungen

Eine Auseinandersetzung mit den Medientheorien und –praxen der Neuen Sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik sollte auch als Auseinandersetzung mit der Geschichte eben dieser sozialen Bewegungen verstanden werden, so lautete die These von Dr. Gottfried Oy.

In seinem Vortrag gab er zuerst einen Überblick über die Medienprojekte sozialer Bewegungen von den 1960er Jahren bis heute, hierbei konstatierte er dass nicht von einer kontinuierlichen Entwicklung Alternativer Medien gesprochen werden kann. Stattdessen seien sowohl Brüche als auch Versuche der Weiterentwicklung verschiedenster Ansätze zu beobachten, dies sei analog zu der diskontinuierlichen Struktur sozialer Bewegungen zu betrachten.

Die Entwicklung der alternativen Medien
Diese wurde anschließend in Verbindung mit drei idealtypischen Konzepten porträtiert:

Sorge um die Demokratie: Gegenöffentlichkeit
Hierbei wurde auf die 1970er Jahre als Jahrzehnt der alternativen Publizistik rekurriert, begründet in dem Modell der Gegenöffentlichkeit. Dieses wurde 1967 vom SDS erstmals dargestellt undbeinhaltete, nach R. Dutschke, eine Form der Öffentlichkeit zu schaffen, in der die Intellektuellen „mit dem Volk und nicht über das Volk“ sprechen.

Kritik der Massendemokratie: Betroffenenberichterstattung
Bei diesem Konzept handele es sich um eine Art Medienkritik, in dieser wurde den Massenmedien unterstellt, dass sie durch ihre anonyme und einseitige Struktur einen realen Meinungs- und Wissensaustausch verhindern.

Emanzipative Strategie: Kommunikation
Hierbei handele es ich um ein Rückkanal- oder Interaktivitätsmodell, welchesdavon ausgeht,das nur ein grundlegender Wandel des Verhältnisses von Medienproduzenten und -rezipienten eine Umwälzung der Struktur der Medien und somit der Gesellschaft hervorbringen könne. Kommunikation kann demnach nicht mehr an sich als demokratisierend beschrieben werden, es geht vielmehr darum, benennen zu können, welche Aspekte von Kommunikation - ehemals in emanzipativem Sinne eingefordert, heute machtkonform integriert - öffentliche Räume anders strukturieren würden und welche inzwischen fester Bestandteil dieser Räume sind.

Im weiteren stellte Oy dar wie es möglich zu überprüfen inwieweit diese Konzepte Eingang in Inhalt und Konzept moderner Medien gefunden haben. Hierzu schlägt er vor die Grundlagen dieser Konzepte, dies sind Politik in erster Person, Betroffenheit und Authentizität, Verbreitung zurückgehaltener Nachrichten, Verwirklichung des Rückkanal-Theorems, nichthierarchische Arbeitsteilung und schließlich ökonomische, institutionelle und (partei)politische Unabhängigkeit, zu nutzen.

Ergebnisse:
Der Einzug von Politik in erster Person, Betroffenheit und Authentizität in die Massenmedien sei sicherlich am deutlichsten zu beobachten. Losgelöst von politischen Inhalten, würden Betroffenheit und authentische Meinungsäußerung selbst zum Inhalt und verliehen den Medien ein kritisches Image.

Die Verbreitung zurückgehaltener Nachrichten: Rein quantitativ könne davon ausgegangen werden, dass mittels zunehmender Anzahl von Printmedien, Fernsehkanälen, Hörfunksendern und Onlineangeboten die Zahl der veröffentlichten und auch relativ breit zugänglichen Informationen zunähme. Allerdings zeige sich ebenso, dass auch die vermehrte Anzahl an Publikationsmöglichkeiten kein Verlassen des vorher festgesteckten hegemonialen Terrains ermögliche.

Verwirklichung des Rückkanal-Theorems: Der “Rückkanal” als technische Möglichkeit sei längst eingeführt, eine tatsächliche Umwälzung der Verhältnisse in der Medienwelt lasse aber weiter auf sich warten.

Die Aspekte der angestrebten nichthierarchischen Arbeitsteilung und der damit zusammenhängenden ökonomischen und parteipolitischen Unabhängigkeit innerhalb der Projekte der alternativen Medien hätten als Innovationspotenzial für die Umstrukturierung der Produktion fungiert.

Internet und Gegenöffentlichkeit
Im Folgenden skizzierte Oy anhand des Projektesindymedia die heutige Situation alternativer Medien. Indymedia sei die wohl bekannteste, internationale Plattform für alternative Nachrichten im Internet. Gegründet 1999 anläßlich der globalisierungskritischen Proteste in Seattle, praktiziere indymedia eine Art traditionelle, aufklärerische Spielart von Gegenöffentlichkeit in Reinform - und beinhalte dennoch weitergehende Momente.

Bis heute hätten sich zwei Richtungen der Netznutzung durch soziale Bewegungen herauskristallisiert: das Internet als virtuelles Äquivalent der Straße, als Parallelraum und auf der anderen Seite als qualitativ neue, produktive und sich vernetzende soziale Praxis . Mit dem Internet sei sozusagen zum ersten Mal historisch die Situation eingetreten, dass zentrale Forderungen gegenöffentlicher Konzepte tatsächlich auch umgesetzt werden könnten: Statt einem Sender und vielen Empfängern gäbe es nun tatsächlich viele Sender und viele Empfänger; bis hin zur tendenziellen Auflösung der Sender-Empfänger-Hierarchie in open publishing Systemen.

Ausblick: Mehr Fragen als Antworten (Zitat)
"Die politische Gegenöffentlichkeit thematisiert ihre Krise (die manche Autoren schon in den Siebzigern ansetzen) in Abgrenzung zu den Massenmedien, die in erster Linie ökonomische Aspekte in den Vordergrund rücken, unter einem anderen Fokus. Ein aktuelles Beispiel: Im Kontext der öffentlich gemachten Existenzkrise der erst 1997 gegründeten Wochenzeitung Jungle World entstand 2004 ein Internetforum, in dem die zentralen Thesen versammelt waren - das aber bezeichnenderweise mangels Teilnahme nach einigen Monaten wieder geschlossen wurde. Neben dem ökonomischen Druck, den Publikationen, die noch nie von einer Zweidrittelkalkulation ausgehen konnten, natürlich anders erleben, war dort von einer “Wagenburgmentalität" der verbliebenen gegenöffentlichen Zeitschriftenprojekte die Rede. Es gäbe innerhalb der Linken, die sich maßgeblich um ihre Medien gruppiere, kaum noch das Interesse an Szene und Spektren übergreifenden Debatten. Darüber hinaus zeige sich das Problem eines veränderten Informationsverhaltens. Zudem sei die politische Rolle gegenöffentlicher Medien oft ungeklärt: Verstehe man sich als kollektiver Organisator, als Organ einer Bewegung oder Ort des Überwinterns in bewegungslosen Zeiten, oder entspricht das Selbstverständnis eher dem einer Plattform für die verschiedensten Positionen? Ebenso offen sei das Selbstverständnis der Redakteure und freien Mitarbeiter, die zwischen der Selbstwahrnehmung als Lohnschreiber, Meinungsmacher oder Mittler zwischen Medien und Akteuren sozialer Bewegungen schwanken würden. Kurz und gut: So wie in den Massenmedien hat sich auch innerhalb der gegenöffentlichen Medien der Diskurs über die Krise der Medien etabliert.

Ist nun das Konzept Gegenöffentlichkeit endgültig überholt? Macht es - provokativ formuliert - noch weiterhin Sinn, in der Regel journalistisch handwerklich schlechte Produkte herzustellen - nur wegen eines, zudem noch permanent in Frage gestellten, politischen Mehrwerts? Ich meine: Mit Sicherheit ja, denn die Notwendigkeit der Auseinandersetzung um Realitätsdeutungen und deren informationelle Grundlagen - einer Arbeit am Diskurs - besteht in jeder gesellschaftlichen Situation, so auch heute. Es geht dabei um eine Rückbesinnung auf die Stärken der Alternativen Medien: Sie unterscheiden nicht zwischen den Aspekten Information, Kontextualisierung und Vernetzung. Während den bürgerlichen Medien Information ein Wert für sich ist, steht eben diese innerhalb Alternativer Medien immer im Kontext politischer Debatten. Kontextualisierung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass es zum einen die „pure“ Information garnicht geben kann, weil sie immer diskursiv eingebettet ist - es also darum geht, diese Einbettung sichtbar zu machen - und zum anderen, dass vermeintlich wertfreie Informationen ins Leere laufen, von den Rezipienten nicht verarbeitet werden können. Vernetzung schließlich meint, dass Alternative Medien immer auch Orte der politischen Kommunikation sind und somit selbst zu einer Organisationsform jenseits von Partei und Verein werden.

Es gelingt den Alternativen Medien somit, zumindest für einen begrenzten Zeitraum, Elemente eines kritischen Gegendiskurses zu etablieren. Das Modell Alternative Öffentlichkeit als gesellschaftskritisches Konzept kann seine Wirkung allerdings nur entfalten, indem es nicht als isolierte Medientheorie, sondern als umfassende Gesellschaftstheorie begriffen wird. Eine Theorie, die sich immer wieder praktisch umsetzen lässt, zeitlich und örtlich begrenzt, ohne Hoffnung auf großen politischen oder ökonomischen Mehrwert - aber dennoch Erfolg versprechend, so paradox das klingen mag. "

Information

In dem 4-tägigen Workshop wird konkret gezeigt, wie durch die Produktionsstrukturen der Medien, durch Auswahl und Schnitt etc. Bedeutung entsteht und warum auch ›investigativer Journalismus‹ manchmal nicht ausreicht. Nach kritischer Analyse von Fernseh- und Printmaterial werden Möglichkeiten selbstbestimmter Öffentlichkeit jenseits einer ›Kritik mit der Fernbedienung‹ diskutiert.

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Literatur

Dayan / Katz (2002) Medienereignisse.
In: Ralf Adelmann u.a. (Hg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft.

Habermas, Jürgen (1998) Faktizität und Geltung.
Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats.

Hall, Stuart (2002) Die strukturierte Vermittlung von Ereignisse.
In: Ralf Adelmann u.a. (Hg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft.

Kocyba, Hermann (2004) Aktivierung.
In: Bröckling, Ulrich u.a. (Hg.):Glossar der Gegenwart.

Link, Jürgen (1994) Grenzen des flexiblen Normalismus?
In: Schulte-Holey (Hg.):Grenzmarkierungen. Normalisierung und diskursive Ausgrenzung.

Marchart, Oliver (2005) Der Apparat und die Öffentlichkeit. Zur medialen Differenz von >Politik< und >dem Politischen<.
In: Gethmann / Stauff (Hg.) Politiken der Medien.

Oy, Gottfried (2003) Vom Kampfbegriff zur elektronischen Demokratie.
Kritische Publizistik, Gegenöffentlichkeit und die Nutzung Neuer Medien durch soziale Bewegungen. In: Peripherie, 92, 23, S. 507-523

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Zuletzt aktualisiert: 12. Dez, 09:30

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